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2. September 2015

Blog

Das Verbrechen an den Schwarzen

An der Eröffnung der Ausstellung über den Naturforscher und Rassisten Louis Agassiz (1807-1873) hielt Paul Rechsteiner die Vernissagerede.

Agassiz


«Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen»: So lautet ein berühmtes Zitat des amerikanischen Schriftstellers William Faulkner.
Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen: Die Sklaverei ist ein Menschheitsverbrechen von derart gewaltigen, unvorstellbaren Ausmassen, dass es verstörend in unsere Gegenwart hineinragt. Und wenn die Erinnerung daran verdrängt wird, dann liegt sie ganz dünn unter der Oberfläche. So dünn, dass es sofort nervös und ungemütlich wird, wenn das Thema angesprochen wird. Auch in einer von Afrika und Amerika scheinbar so weit entfernten Stadt wie St.Gallen.

«12 Years a Slave»: Wer letztes Jahr diesen Film von Steve McQueen über die Entführung und Versklavung von Solomon Northup vor mehr als 150 Jahren gesehen hat, ob in St.Gallen oder irgendwo auf der Welt, sieht alles noch einmal mit ganz anderen Augen. Die autobiografische Erzählung von Solomon Northup geht unter die Haut. Sie zeigt aus der Perspektive eines Betroffenen, wie wenig wir mit allem, was wir bisher wissen, die Dimensionen dieses Menschheitsverbrechens begriffen haben.

In der Schweiz gab es keine Sklaverei. Zum Glück. Aber Schweizer Wissenschaftler und Schweizer Geschäftsleute waren in dieses Verbrechen involviert. Sklaverei war nicht nur ein Verbrechen an schwarzen Menschen, sondern auch ein Geschäft mit schwarzen Menschen. Das Verbrechen setzte das Geschäft voraus. Es war ein verbrecherisches Geschäft. Ein verbrecherisches Geschäft, das auch von Schweizer Geschäftsleuten betrieben wurden.

Jede Organisation braucht eine Rechtfertigung für ihr Handeln. Auch das organisierte Verbrechen der Sklaverei. Eine Voraussetzung  dafür war die Behauptung, dass Schwarze minderwertige Menschen seien. Umso mehr, wenn diese Infamie angeblich wissenschaftlich untermauert wurde.  Der Schweizer Naturforscher Louis Agassiz war einer der bedeutendsten Wissenschaftler seiner Zeit. Seine Rechtfertigung des Rassismus und der Sklaverei war ein intellektuelles Verbrechen. Es hat mit dazu beigetragen, dass es so lange dauerte, bis die Sklaverei überwunden werden konnte. Und der systematische Rassismus gegenüber Schwarzen so lange angehalten hat.

Agassiz nahm Partei in einer der grossen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts. Er vertrat seine rassistischen Thesen Jahrzehnte, nachdem der Wiener Kongress von 1815 den Sklavenhandel verboten hatte. Und in einer Zeit, in der Abraham Lincoln in seiner berühmten Gettysburger Rede den Grundsatz beschworen hatte, «that all men are created equal», dass alle Menschen gleich geschaffen sind. Agassiz brachte seine gewichtige Stimme auf der Seite jener ein, die Schwarzen den Status vollwertiger Menschen abgesprochen hatten.

Sklaverei ist die extremste, inhumanste, verwerflichste Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen durch Menschen. Wenn Hans Fässler darauf besteht, dass Louis Agassiz nicht länger die Ehre der Benennung eines Schweizer Berggipfels erwiesen werden darf, dann beharrt er darauf, dass die Sklaverei nicht irgendein Verbrechen war. Sklaverei ist ein Menschheitsverbrechen, das bis heute nur ungenügend aufgearbeitet ist. Und Rassismus eine Plage, die bis heute fortwirkt, mitten in unserer Gesellschaft.

Die Benennung eines Berggipfels ist ein herausragendes Symbol. Erst recht in einem Land wie der Schweiz, das auf seine Berge – zu Recht – so stolz ist. Jedes Land, jede Gesellschaft, kennt Symbole, auf die sie sich bezieht. Auf die sie sich positiv bezieht. Sie schaffen Orientierung. Sie verorten und bewerten. Es geht dabei nicht einfach um etwas Vergangenes, sondern um Zeichen, die in der Gegenwart wirken. Ortsbezeichnungen sind wie Denkmäler manchmal politisch, hochpolitisch.

Die Erinnerung an das Konkrete ist dabei regelmässig stärker als das Abstrakte. Wenn Hans Fässler an Louis Agassiz erinnert, dann ist diese Erinnerung konkret. Mit der Einbettung in die Geschichte des Rassismus schafft die Ausstellung über Agassiz ein wichtiges Stück Aufklärung. Die heute, wenn auch auf eine ganz andere Weise, genauso wichtig ist wie damals.

Seit der Aufklärung befinden wir uns gewissermassen im Kampf zweier Linien. Der Linie der Aufklärung, die auf der Gleichheit der Menschen beharrt. Und der Position jener, welche die herrschende Unterdrückung und Ausbeutung rechtfertigen. Die Herrschaft der Menschen über andere Menschen. Oder sie bagatellisieren oder verharmlosen.

Der Kampf dieser Linien ist aktueller, als uns lieb sein kann. Wir sind in der Schweiz heute mit einer neuen Volksinitiative der zurzeit wählerstärksten Partei konfrontiert. Sie verdankt ihren ganzen Aufstieg der Fremdenfeindlichkeit. Die neue Initiative will in Zukunft Schweizer Paragraphen dem internationalen Recht überordnen. Gemeint sind dabei vor allem die Menschenrechte.

Was aber bedeutet es, wenn Schweizer Recht plötzlich den Menschenrechten vorgehen soll? Die Menschenrechte sind die wichtigste Errungenschaft der jüngeren Menschheitsgeschichte. Die Durchsetzung der Menschenrechte hat für die Abschaffung der Sklaverei gesorgt. Die Menschenrechte sind auch die Basis der modernen Schweiz.

Dass die Menschen von Natur aus gleich sind und dass ihnen von Natur aus die elementaren Rechte zukommen, stand auch in der Schweiz am Beginn der Beseitigung der Untertanenverhältnisse der alten Eidgenossenschaft. Auch für die Schweiz, und die Menschen in der Schweiz, bedeutete die Anerkennung unveräusserlicher Rechte einen entscheidenden Fortschritt.

Die Menschenrechte machen aber nicht an den Staatsgrenzen halt. Sie sind von Natur aus transnational. Sie kommen den Menschen kraft ihres Menschseins zu. Nicht weil sie einer bestimmten Nation angehören oder nicht. Bei der neuesten SVP-Initiative geht es also um die Grundlagen der Schweiz. Um ihr grundrechtliches Fundament. So fundamental ist deshalb diese Auseinandersetzung für die Zukunft unseres Landes.

Und wenn die Beschäftigung mit der Schweizer Geschichte in letzter Zeit wieder einen neuen Stellenwert erhalten hat, dann kann man eigentlich nur sagen: Wohlan! Es geht dann aber nicht einfach um die mythische Verklärung der Vergangenheit, sondern um die Beschäftigung mit der realen Geschichte eines sehr vielfältigen und widersprüchlichen Landes mit seinen hellen und dunklen Seiten. Die Schweiz war ein international immer sehr verflochtenes kleines Land. Das ist Teil ihrer Erfolgsgeschichte. Dazu gehören die Verstrickungen in viele der grossen Fragen der Menschheitsgeschichte. Wer die Vergangenheit der Schweiz, und noch mehr ihre Gegenwart, verstehen will, muss sich mit der Geschichte ihrer Verflechtungen beschäftigen.

Hans Fässler hat vieles geleistet. Mit Kompetenz und Hartnäckigkeit. Seinerzeit als Aktivist der Anti-Apartheid-Bewegung. Als Initiant des Vereins «Gerechtigkeit für Paul Grüninger». Mit seinem Buch über die Schweizer Ortstermine zum dunklen Kapitel der Sklaverei. Und mit der Kampagne «Demonter Agassiz».

Es wurde Zeit, höchste Zeit, dass diese Ausstellung, endlich, auch in St.Gallen stattfindet. Der Widerstand, mit dem Hans Fässler bei diesem Thema konfrontiert war, macht die Sache, um die es hier geht, nicht kleiner, sondern grösser.

Die Ausstellung «Gletscherforscher, Rassist: Louis Agassiz (1807-2015)» von Hans Fässler ist noch bis zum 22. September im Eingangssraum Lämmlisbrunnenstrasse der Kantonsschule am Burggraben in St.Gallen zu sehen.