close
26. Juni 2018

Blog

100 Jahre Suva

Die Suva ist aus extremer Not entstanden. Heute ist sie ein Leuchtturm in der Landschaft der Sozialversicherungen. Ein Blick zurück und nach vorne.



Vor der Gründung der Suva war die Zahl der berufsbedingten Todesfälle mit mehr als 1000 Toten pro Jahr gemessen an der Zahl der Beschäftigten 25-mal höher als heute. Jeder Dritte wurde Opfer eines Betriebsunfalls. Ein Todesfall oder eine Invalidität bedeutete für die Betroffenen und ihre Familien den Absturz in die Armut. Heute ist das zum Glück nicht mehr so. Ein gewaltiger sozialer Fortschritt. 


Die soziale Not allein hätte allerdings nicht zum Umdenken geführt. Es brauchte dafür den jahrzehntelangen Druck der organisierten Arbeiterbewegung. Aber letztlich wäre die Gründung der Suva ohne Unternehmer und bürgerliche Politiker mit einem starken Sinn für soziale Verantwortung nicht möglich geworden. Herausragend war der langjährige Einsatz des FDP-Nationalrats und späteren Bundesrats Ludwig Forrer. Von ihm stammt die prägende Formel: «Haftpflicht bedeutet Streit, Versicherung den Frieden». 

Heute – 100 Jahre später – können wir eine Erfolgsgeschichte feiern, die nicht selbstverständlich war. Die Geschichte der Katastrophen, wie Mattmark oder Asbest, erinnert uns auch an den kontroversen und schmerzlichen Prozess ihrer Bewältigung. Die Suva spielte eine wichtige, eine unersetzliche Rolle. Das Risiko Unfall gehört zu den existenziellen Risiken, denen die Menschen ausgesetzt sind. Die Suva sorgt für eine Unfallversicherung zu einem ausgezeichneten Preis-Leistungsverhältnis. Sie hilft vorbildlich bei der Rehabilitation. Und mit den Kontrollen vor Ort und der Prävention trägt sie wesentlich zur Arbeitssicherheit bei. Der Suva-Schuh ist Kult. Ob Helme, Grenzwerte oder Maschinensicherheit: Jeder Unfall, der nicht passiert, jede Berufskrankheit, die nicht ausbricht, ist ein Glücksfall für die Betroffenen und ihre Familien. Aber auch für die Betriebe und Unternehmen. Denn Unfälle und Berufskrankheiten kommen teuer zu stehen. Der im Laufe der Jahrzehnte aufgebaute Mix von Prävention, Versicherung und Rehabilitation sind der Schlüssel für das Erfolgsmodell Suva.  

An der konstituierenden Sitzung der Suva vom 2. Oktober 1912 in Luzern sagte Bundesrat Edmund Schulthess in einer visionären Rede an die Adresse der Verwaltungsräte: «Ihre Aufgabe ist es, die Hoffnungen der Freunde der Institution zu erfüllen und (…) deren Gegner zu versöhnen. Das wird Ihnen in der Hauptsache gelingen, wenn Sie beweisen, dass auch eine von Staates wegen organisierte Anstalt rationell und ökonomisch handeln kann (...). Eine solche Wirksamkeit des Verwaltungsrats in Verbindung mit einer entgegenkommenden Schadenabwicklung wird nicht verfehlen, der Anstalt die Sympathie und Anerkennung aller Kreise zu verschaffen.» –  Heute zeigt es sich, dass der Bundesrat mit Unterstützung durch Parlament und Volk auf das richtige Pferd eines öffentlich-rechtlichen Unternehmens mit direkter Beteiligung der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände gesetzt hat. Die gemeinsame Steuerung der neuen Institution durch die Sozialpartner, mit dem Bund in der Rolle der Oberaufsicht, war der Schlüssel für effiziente und branchennahe Lösungen. In Zeiten grosser sozialer Spannungen, ja des offenen Klassenkampfs, war die Gründung der Suva ein mutiger, aber wegweisender Schritt. 

Auch später ist es den Vertretern und Vertreterinnen der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite immer wieder gelungen, die gemeinsamen Interessen in den Vordergrund zu stellen und über den einen oder anderen ideologischen Schatten zu springen. Das letzte Mal bei der letztes Jahr in Kraft getretenen UVG-Revision, die im Bundeshaus unter einem schlechten Stern gestartet wurde. Der Erfolg des zweiten Anlaufs zeigt eindrücklich, wie hoch die Akzeptanz der Suva und die Durchschlagskraft der Sozialpartner ist, wenn sie gegenüber den politischen Institutionen geeint auftreten. 

Die Suva steht gesund da und ist in besserer Verfassung als andere Versicherungen und Sozialversicherungen. Dass das so ist, ist auch das Verdienst engagierter und kompetenter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich stark mit der Institution Suva und ihrer bedeutenden Aufgabe identifizieren. 

Aber die Suva und überhaupt die Unfallversicherung dürfen nicht auf den Lorbeeren sitzen bleiben. Eine gute Unfallversicherung war eine Erfolgsbedingung für den wirtschaftlichen Fortschritt im Industrie- und Maschinenzeitalter. Die soziale Absicherung und der wirtschaftliche Fortschritt gingen Hand in Hand. Mit der Digitalisierung stehen wir heute unter veränderten Voraussetzungen vor ähnlichen Herausforderungen. Zu denken ist beispielsweise an die Problematik der psycho-sozialen Berufskrankheiten. 

Die Suva als Institution wird sich den Herausforderungen der strategischen Falle der Gesetzesrevision von 1984 stellen müssen. 1984 wurden die grossen Verbesserungen in vielen Bereichen politisch damit erkauft, dass der Tätigkeitsbereich der Suva weitgehend auf den industriellen Sektor beschränkt wurde. Der zweite Sektor bleibt wichtig für die Schweiz. Aber niemand kann verdrängen, dass der industrielle Sektor heute noch 20 Prozent der Erwerbstätigen erfasst. 1984 waren es 40 Prozent. Eine Suva, die sich für die kommenden 100 Jahre rüstet, muss diese strategische Herausforderung annehmen. Im Interesse nicht nur der industriellen Wirtschaft mit ihren spezifischen Unfallrisiken, sondern im Interesse aller Beschäftigten. Und letztlich der ganzen Wirtschaft. 

Die Gewerkschaften hatten schon bei der letzten UVG-Revision versucht, die Vertreter der Arbeitgeber und die aufgeschlossenen Bürgerlichen in der Politik zu überzeugen, dieses Problem anzugehen. Es gäbe verschiedene Optionen dafür. Leider fehlte der Mut, dieses Kapitel anzugehen, obwohl uns viele in der Sache Recht gaben. In den kommenden Jahren wird dieser Mut im Interesse zukunftsorientierter Lösungen aber wieder gefragt sein. Wir können uns dabei an der Weitsicht der Gründergeneration mit den freisinnigen Bundesräten Forrer, Deucher und Schulthess orientieren. Sie haben sich auch durch Niederlagen und Rückschläge nicht entmutigen lassen, das als richtig erkannte Ziel weiter zu verfolgen, bis der Durchbruch möglich wurde.

Heute steht die Unfallversicherung mit ihrer zentralen Institution, der Suva, als Leuchtturm in der Landschaft der Sozialversicherungen. Beim Zwilllingsrisiko des Unfalls, der Krankheit, können wir von solchen Lösungen nur träumen. Ende des 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts war die Schweiz sozialpolitisch ein fortschrittliches Land. Auch im internationalen Vergleich. Denken wir an die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf. Die Hundertjahrfeier findet nächstes Jahr statt. Lassen wir uns von diesem Geist inspirieren, der die Suva erst möglich gemacht hat. Die Schweiz darf stolz darauf sein.


Diese Rede wurde am 26. Juni zum feierlichen Akt zu 100 Jahre Suva gehalten.