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1. Dezember 2018

SGB-Kongress

Es gibt keine Alternative zum Prinzip der Solidarität

Vor 20 Jahren wurde ich zum ersten Mal zum Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes gewählt. Die 20 Jahre sind vergangen wie im Flug.



Bis zum letzten Tag haben mich unsere gemeinsamen Kämpfe in Atem gehalten.

In diesen 20 Jahren sind uns ein paar Dinge gelungen. Vor allem gewerkschaftspolitisch. Bei anderem liegen wir zurück, gemessen an dem was nötig wäre. Ich möchte diese letzte Rede für ein paar Überlegungen nutzen, was mir für die Zukunft wichtig scheint. Vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund wird auch in Zukunft viel abhängen, für unsere Mitglieder, für die arbeitende Bevölkerung, und darüber hinaus für die ganze schweizerische Wirtschaft und Gesellschaft.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund ist eine stolze Organisation. Der SGB ist der zweitälteste gewerkschaftliche Dachverband der Welt. Er wurde nach dem englischen TUC gegründet, aber noch vor dem amerikanischen Dachverband und den Dachverbänden der anderen europäischen Länder. Die Gründung des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds war die Antwort auf die schnelle Industrialisierung der Schweiz und die brutalen Arbeitsbedingungen jener Zeit. 

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund spielte in diesen 138 Jahren zusammen mit den ihm angeschlossenen Verbänden eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen, beim Aufbau des Sozialstaats und für faire Chancen für alle. Die moderne Schweiz, die soziale Schweiz gäbe es nicht ohne starke Gewerkschaften, ohne den Schweizerischen Gewerkschaftsbund. Die strategischen Weichenstellungen des SGB prägten die Entwicklung unseres Landes. Und sie werden diese weiter prägen, sofern die entscheidenden Weichenstellungen nicht verpasst werden. Das macht unsere Aufgabe so anspruchsvoll.

Was gehört zu den Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zukunft? Es braucht dafür den Geist der Offenheit und des Pluralismus. Und die Fähigkeit zur Bündelung und Konzentration der Kräfte auf die für die Arbeitenden entscheidenden Fragen.

Die Gewerkschaftslandschaft hat sich in den letzten 20 Jahren so stark verändert wie überhaupt noch nie seit den Gründungsjahrzehnten. Das war nur möglich, weil sich in unseren Reihen die Überzeugung durchsetzte, dass sich die Gewerkschaften verändern müssen, wenn sie die Arbeitenden wirksam vertreten wollen. Wenn sich die Wirtschaft verändert, wenn sich die Arbeitsverhältnisse ändern, dann müssen sich auch die Gewerkschaften weiterentwickeln. Eine Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft zur Veränderung. Die Offenheit dafür.

Die wichtigsten Veränderungen in der Gewerkschaftslandschaft der letzten 20 Jahre waren die Gründung der Unia und die Öffnung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes gegenüber Organisationen, die bisher nicht Mitglied eines Dachverbands waren. Insbesondere gegenüber Berufsverbänden und Angestellten. Beides – die Gründung der Unia und die Öffnung des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds – waren Antworten auf die wirtschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Auf die wirtschaftliche Entwicklung hin zu den Dienstleistungen. Wer hätte sich vor 20 Jahren vorstellen können, dass der Schweizerische Bankpersonalverband Teil der Gewerkschaftsbewegung wird? 

Die Kooperation mit Verbänden ausserhalb der traditionellen Gewerkschaften des Gewerkschaftsbundes ist heute weit fortgeschritten. Auch der Beobachterstatus leistet dabei gute Dienste. Und die Zusammenarbeit mit den Freunden von Travail Suisse ist so gut wie noch nie. Auch dank guter gemeinsamer Erfahrungen zum Beispiel in der schwierigen Zeit nach der Annahme der sogenannten Masseneinwanderungsinitiative und wegen der aktuellen Attacken auf den Lohnschutz.

Für die Entwicklung der Kooperation unter den Verbänden braucht es Offenheit. Und viel Umsicht, gerade von der viel grösseren und stärkeren Organisation, die wir sind. Und den Respekt vor dem Pluralismus, gegen innen und gegen aussen. Dann wächst auch die Einsicht, dass Spaltungen niemandem nützen, ausser allenfalls dem Gegner. Sollte sich in Zukunft die Gelegenheit bieten, die historisch gewachsenen Spaltungen der Gewerkschaftsbewegung zu überwinden, dann darf dieser Moment nicht verpasst werden. Auch mit Blick auf die Verbände, die bisher ausserhalb der Dächer stehen, sich in der Praxis uns aber immer mehr angenähert haben und in zentralen Fragen die gleichen Positionen vertreten. 

Diesen Geist der Offenheit, des Pluralismus und der Kooperation braucht es auch nach innen. Gegensätze, Widersprüche, unterschiedliche Auffassungen müssen ausgehalten werden. Sie sind keine Schwäche, sondern eine Stärke unserer vielfältigen Bewegung. Damit verbunden sein muss aber immer auch die Bereitschaft zur Bündelung der Kräfte in den gewerkschaftlich entscheidenden Fragen. 

Bei dieser Konzentration auf die gewerkschaftlich entscheidenden Fragen sind wir beim politischen Mandat der Gewerkschaften, das sich von einer parteipolitischen Agenda klar unterscheidet. Mit Blick auf unsere Aufgaben und mit Blick auf unsere vielfältig zusammengesetzte Mitgliedschaft ist diese Konzentration auf die gewerkschaftlichen Kernaufgaben elementar. Zu den für uns zentralen Fragen gehören die Arbeitsbedingungen, der Sozialstaat und der Service Public. Hier, in diesen zentralen gemeinsamen Fragen, wollen und müssen wir die Agenda prägen. Die direktdemokratischen Instrumente helfen uns dabei. Und noch mehr unsere in den letzten Jahrzehnten gestärkte Mobilisierungskraft. 

Natürlich haben wir auch in den Grundfragen der Demokratie und der Menschenrechte eine klare politische Haltung. Die Kampagne gegen die Anti-Menschenrechts-Initiative der SVP war ein Beispiel dafür. In diesen demokratiepolitischen Grundsatzfragen sind wir aber eine von vielen zivilgesellschaftlichen Bewegungen. Wir müssen in diesen Grundfragen für die Demokratie unseren Beitrag leisten. In den gewerkschaftlich zentralen Fragen aber kommt es aber entscheidend auf uns an.

Oder um es noch etwas anders zu sagen: Die Zukunft des Sozialstaats und das Verhältnis zu Europa sind zwei zentrale Zukunftsfragen für die Schweiz und die schweizerische Gesellschaft. In beiden Fragen ist entscheidend, wie sich die Gewerkschaften orientieren. Gelingt es uns, die AHV als Herz des Sozialstaats wieder zu stärken? Und überhaupt für mehr soziale Sicherheit für die arbeitenden Menschen, und für alle mit tiefen und mittleren Einkommen zu sorgen? 

Und gelingt es uns, die Angriffe auf die Löhne und Arbeitsbedingungen abzuwehren? Und mit aktiven Lohnkampagnen und starken flankierenden Massnahmen für eine positive Entwicklung bei den Löhnen zu sorgen? Wenn uns das gelingt, verteidigen wir gleichzeitig die Personenfreizügigkeit als grosse Errungenschaft. Als ein wichtiges Stück Freiheit und als Überwindung der Diskriminierung. Diese Diskriminierung – das unwürdige Saisonnierstatut – hat den Schweizer Arbeitsmarkt viel zu lange geprägt. Gleiche Rechte, gute Gesamtarbeitsverträge und ein entschlossener Kampf gegen Lohndumping sind das Erfolgsrezept, das wir in die Zukunft tragen müssen.  

In diesen zentralen Fragen des Arbeitsmarkts und des Sozialstaats bleibt also entscheidend, wie sich die Gewerkschaften orientieren. Weil wir die organisierte Kraft der arbeitenden Bevölkerung sind. Eine Voraussetzung für Erfolge bleibt, dass wir uns als offensive und starke Kraft in breiten Bündnissen verstehen.

Für die Schweizer Gewerkschaften sind zwei weitere Orientierungen wichtig. Die erste ist die positive Haltung zu den hier lebenden und arbeitenden Menschen aus der Migration, unabhängig von ihrer Herkunft. Es war diese Öffnung der Schweizer Gewerkschaften gegenüber Migrantinnen und Migranten, die für den Prozess der Neuorientierung entscheidend war. Wie keine andere Organisation spiegeln die Gewerkschaften die Realität der Arbeit in der Schweiz. Und auch die damit verbundenen Schwierigkeiten. Ein Drittel der gesamten Arbeitsstunden in der Schweiz leisten Frauen und Männer ohne schweizerische Staatsangehörigkeit. Ein Viertel der Bevölkerung hat keine politischen Rechte, darunter viele Junge, die seit langem oder schon immer hier leben und arbeiten. Der Ausschluss eines Viertels der Bevölkerung von den politischen Rechten ist für eine Demokratie auf Dauer ein unhaltbarer Zustand. Mit den vielen Menschen aus der Migration, die bei uns organisiert sind, gehören die Gewerkschaften zu den fortschrittlichen Organisationen der Schweiz. Wir stehen ein für eine Schweiz der gleichen Rechte für alle.

Der zweite Punkt, den ich hier mit Blick auf die Zukunft unterstreichen möchte, ist die internationale Orientierung. Die Verankerung und die Stärke der Gewerkschaften misst sich daran, ob sie in der Lage sind, die Löhne, die Arbeitsbedingungen, den Sozialstaat im nationalen Rahmen  zu verteidigen und zu entwickeln. Aber das allein genügt nicht. Schon in den ersten Jahrzehnten hatten die schweizerischen Gewerkschaften als Gewerkschaften eines kleinen, aber international stark verflochtenen Landes auch eine ausgeprägte internationale Orientierung. Das ist heute, mit Blick auf die galoppierende technologische Entwicklung, noch wichtiger geworden, auch mit Blick auf die Herausforderungen, die nur weltweit angegangen werden können wie der Klimawandel. Das Denken über den Nationalstaat hinaus werden wir gerade in Zeiten nationalstaatlicher Besoffenheit wieder mehr pflegen müssen.

Die Gewerkschaften, wie die Linke überhaupt, haben derzeit weltweit wie in Europa einen schweren Stand. Aber die Geschichte verläuft nicht linear. Auch wenn sich wirtschaftlich, technologisch viel verändert hat: Auf längere Sicht gibt es keine Alternative zum Prinzip der Solidarität. Der Orientierung an Zielen, die allen eine Perspektive bieten. Die gewerkschaftlichen Prinzipien sind unter veränderten Bedingungen so aktuell wie je.

Bei allem, was wir besser machen könnten und müssten, bei allem, was wir ändern können und müssen: Die schweizerische Gewerkschaftsbewegung lebt und inspiriert. Denken wir nur an die letzten Wochen. An die grosse Demonstration vom 22. September auf dem Bundesplatz mit vielen jungen Frauen und Männern. An die lebendigen Feiern in der Alten Hauptwerkstätte der SBB in Olten zur Erinnerung an den grossen Landesstreik. An die eindrücklichen Streiks der Bauarbeiter in den verschiedenen Landesteilen. Und an die Bewegung für den Frauenstreik 2019, die immer mehr Fahrt aufnimmt. All das gibt viel Anlass zu Optimismus. 

Mir bleibt zu danken. Den zehntausenden Kolleginnen und Kollegen, die unsere Bewegung tragen, von denen ich vielen im Laufe der Jahre begegnet bin und von denen ich – auch das ist mir sehr wichtig – viel gelernt habe. Mitarbeitende der Bahn, der Post, Pflegefachfrauen, Bauarbeiter, Verkäuferinnen, immer wieder erstaunlich vielen Informatikerinnen und Informatikern quer durch die Branchen, Ingenieurinnen, Gebäudetechniker, Lehrpersonen und vielen anderen mehr. Die Gewerkschaften sind lebendige Labors der Arbeitswelt. Labors der kollektiven Intelligenz. 

Danken möchte ich dem Sekretariat für die grossartige Arbeit. Und das ebenso grossartige Engagement. Ich hatte das Glück, mit einem hervorragenden und hervorragend motivierten Team zu arbeiten. Was bei uns in dieser Zeit geleistet wurde, steht auf dem Niveau der grossen Sekretäre der Geschichte der schweizerischen Gewerkschaftsbewegung, von Herman Greulich, von Max Weber, von Fritz Leuthy. Wir brauchen in unserer Bewegung die engagiertesten und qualifiziertesten Leute. Auch in Zukunft.

Und danken möchte ich all den Leuten in meinem Umfeld, die mich getragen, unterstützt und, wenn nötig, auch kritisch begleitet haben. Ich weiss, was ich ihnen allen zu verdanken habe. 

Das Persönliche nach aussen zu wenden ist bekanntlich nicht meine Sache. Ich möchte trotzdem zum Abschluss eine kleine persönliche Geschichte erzählen. Es war in der Zeit, als Doris Leuthard Vorsteherin des Volkswirtschaftsdepartementes war, im Vorfeld der Volksabstimmung zur Erweiterung der bilateralen Verträge auf Bulgarien und Rumänien. Die Verhandlungen über die von uns geforderten Verbesserungen der flankierenden Massnahmen waren im Gang. Zwar gab es seit dem Start der bilateralen Verträge eine Gesetzesbestimmung über staatliche Mindestlöhne in Branchen ohne Gesamtarbeitsverträge. Doch das blieb toter Buchstabe, weil sich die Arbeitgeber aus ideologischen Gründen grundsätzlich gegen Mindestlöhne sperrten.

Wir verlangten seit längerem und jetzt ultimativ einen nationalen Mindestlohn für die Hauswirtschaft, wo es besonders viele prekäre Arbeitsbedingungen und viel Lohndumping gab. Bundesrätin Leuthard lud in der verfahrenen Situation zu einem Spitzengespräch mit den Arbeitgeberverbänden ein. Statt auf das Thema seriös einzugehen begann ein allgemeines Lamento, wie schwierig die Suche nach Reinigungskräften geworden sei, und wie hoch inzwischen die Löhne. Da lupfte es mir den Deckel: Meine Mutter habe als Putzfrau gearbeitet. Schlagartig herrschte Ruhe. Die soziale Realität dieser für das Funktionieren unserer Wirtschaft und Gesellschaft unentbehrlichen Arbeit stand auf einmal mitten im Raum. Der erste staatliche Mindestlohn auf nationaler Ebene wurde beschlossen. 100‘000 Angestellte der Hauswirtschaft haben einen Nutzen davon.

Meine inzwischen 93jährige Mutter spielte plötzlich eine entscheidende politische Rolle. Manchmal ist es halt doch entscheidend, welche Lebenserfahrungen wir mitbringen.